VFR in IMC
von SIEGFRIED H. KOTTYSCH
Da hat man sich nun viele Jahre, nämlich genau seit man das Licht der Welt
erblickt hat, daran gewöhnt, dass einem der eigene Körper, die eigenen Sinne
sagen, wo's langgeht, wo oben und unten, rechts und links, wo hinten und vorn
ist, und kaum fängt man das IFR-Training an, muss man lernen, gegen das an zu
denken, was einen die ganzen Jahre über zuverlässig durchs Leben gebracht hat.
Was genau ist eigentlich das Problem des VFR-Piloten mit IMC? Warum ist es so
tödlich?
Das eigentliche Problem beginnt bei unserem menschlichen Körper. Wir sind
perfekt geschaffen für unsere natürliche Umgebung: Den Erdboden. Wenn wir uns
aber in unserer 'adoptierten' Umgebung bewegen - in der Luft, können unsere
erdgebundenen Sinne uns locker austricksen. Wir machen leicht die Erfahrung von
räumlicher Desorientierung. Dies wird häufig 'Piloten Vertigo' genannt, aber das
ist nicht wirklich die richtige Bezeichnung. Vertigo ist die Sinnestäuschung von
Bewegung. Beispielsweise, eine Drehbewegung wahrzunehmen, die gar nicht
existiert. Räumliche Desorientierung ist etwas anderes. Wenn wir eine räumliche
Desorientierung erfahren, dann, weil Bewegung und Drehung da sind, aber durch
unseren Körper missinterpretiert werden.
Wir halten unser Gleichgewicht und unsere Orientierung mittels dreier
Informationsquellen aufrecht: Zuerst durch unsere Augen. Wir erkennen, was unten
und oben ist, indem wir sehen, was unten und oben ist. Unsere Augen versorgen
unser Gehirn permanent mit diesen Informationen, ohne dass wir etwas davon
merken.
Die zweite Methode, die wir für unsere Balance nutzen, nennt man den
'propriozeptischen Sinn'. Das klingt schwierig, ist es aber nicht! Wir spüren
zum Beispiel, ob wir auf der rechten Seite liegen, auch, wenn wir die Augen
geschlossen haben oder es stockdunkel im Raum ist. Warum? Weil unsere
inneren Organe der Schwerkraft folgen und mehr oder weniger stark nach rechts
rutschen. Das fühlen wir, das Gehirn kriegt ein entsprechendes Signal und
liefert uns das Resultat: 'Du liegst auf der rechten Seite'. Oder noch
deutlicher: Wir spüren, dass etwas anders ist als sonst, wenn wir auf dem Kopf
stehen!
Und schließlich bestimmten wir Balance und Position mit dem 'Vestibular-
Apparat'. So einen tollen Apparat haben wir! Besser bekannt unter dem Namen
'Innenohr'! Wie der Name vermuten lässt, befindet sich das in unserem Kopf
zwischen dem Ohr und dem Gehirn. Mit dem Äußeren Ohr hören wir, klar. Im
Mittelohr liegen die kleinen Knöchelchen, die Vibrationen an das
flüssigkeitsgefüllte Innenohr transportieren. Das Mittelohr ist übrigens auch
für das 'Plopp' verantwortlich, dass wir bei zügigen Altitude-Wechseln vernehmen
können...
Aber das Innenohr hat es 'in sich'...! Es ist eigentlich zwei Organe in einem:
Ein Teil lässt uns hören, der andere das Gleichgewicht halten. Es ist ein mit
Flüssigkeit gefüllter Raum. In dem Teil, der für den Gleichgewichtssinn
zuständig ist, befinden sich halbbogenförmige Kanäle, und zwar drei Stück. Und
clevererweise so in drei Achsen angeordnet, dass Bewegungen um drei Achsen
wahrgenommen werden können. Und wie das funktioniert, ist so simpel wie genial:
In diesen Bögen befinden sich feine Sinneshärchen. Wenn wir uns nicht bewegen,
stehen die einfach so ruhig vor sich hin. Wenn wir aber zum Beispiel den Kopf
wenden, oder den ganzen Körper in eine Richtung drehen, kommt Bewegung in die
Sache:Durch die Trägheit der Flüssigkeit dreht diese sich nicht sofort mit, wir
sehen sowas, wenn wir einen Teller Suppe drehen: Die Suppe verharrt einen Moment
in ihrer Ausgangslage. Die Härchen, die im Innenohr in der Flüssigkeit stehen,
werden also bewegt, in eine Richtung ausgelenkt. Diese Information geben sie
unverzüglich an unser Gehirn weiter (ist ja ihr Job!), und unser Gehirn gibt uns
daraus die Information: 'Du drehst dich gerade!' Und da wir ja drei solcher
flüssigkeitsgefüllten krummen Kanäle, die Bogengänge, haben, erkennen wir
dreidimensionale Drehbewegungen.
Aber einen Haken hat das Ganze: Wenn wir unseren Suppenteller lange genug
gleichmäßg genug drehen, hat irgendwann die Suppe die gleiche Drehbewegung und
Geschwindigkeit. Die Flüssigkeit in unserem Innenohr auch...! Mit dem Ergebnis,
dass die Härchen wieder in Ruhestellung sind - und unser Gehirn uns meldet:
'Drehbewegung eingestellt!' - Glatt gelogen! Genau so prekär ist der umgekehrte
Fall: Wir stellen nach längerer Drehung die Drehbewegung ein. Die Flüssigkeit
dreht sich aber noch weiter - die Härchen kommen jetzt wieder in Bewegung, und
zwar in umgekehrte Richtung! Ergebnis: Wir sind sicher, uns nun in die
entgegengesetzte Richtung zu drehen! Heikel...!
Was uns vom Gegenteil überzeugen könnte, ist unser Augenlicht. Keine Drehung
mehr zu sehen - wir drehen uns nicht mehr! Uns ist nur schwindelig. Oder übel...
Warum? Weil Ohr sagt: 'Wir drehen!' Und Auge sagt: 'Stimmt nicht!' Diskrepanz im
Gehirn - zum Kotzen...!
Bei Passagieren im wahrsten Sinne schon übel genug - aber was ist mit dem
Piloten...?
In IMC nützt uns unser Auge nichts - weil es nichts zu sehen gibt. Keine
Referenzdaten von außerhalb des Fliegers. Eine nicht koordinierte Linkskurve
geflogen, bei der zuviel Seitenruder im Verhältnis zum Querruder gegeben wird,
und wir sind sicher:'Du liegst auf der rechten Seite!' (propriozeptischen Sinn!)
Da wir in einem Flieger sitzen, wissen wir:'Dagegen muss schnellstens was getan
werden!'. Und da fängt das Unheil erst richtig an: Wenn wir sicher sind, 'auf
der rechten Seite' zu liegen, assoziieren wir damit unweigerlich ein nach rechts
hängendes Flugzeug. Was tun wir? Wir richten es nach links auf... Und jetzt
lesen wir mal eben den Anfang dieses Absatzes nach - wir waren bereits in einer
Linkskurve! Die wird nun verstärkt, in der Annahme, das Flugzeug waagerecht
auszurichten... Das Ganze noch in den in IMC gerne herrschenden Turbulenzen -
und wir haben fertig...
Oder wir gelangen in IMC allmählich in eine Steilspirale... Wenn das behutsam
genug geschieht, gibt es unter Umständen keine Bewegung der Sinneshärchen (die
Suppe dreht sich mit!), und wir sind sicher, wir befinden uns im
unbeschleunigten Geradeausflug... Oder wir leiten einen längeren Spiralsturz aus
- und sind überzeugt, uns nun in die entgegengesetzte Richtung zu drehen...!
All dies zwingt uns durch unsere lebenslange Erfahrung mit unserem Körper
geradezu dazu, gefühlsmäßig einzuschreiten - mit dann erst richtig fatalen
Folgen...!
Was ist also die Kunst des IFR-Fliegens? Nicht, die Instrumente, die Abläufe zu
kennen und interpretieren zu können, das kann ein guter PC-FluSi-Pilot auch. Die
Kunst ist, zu lernen, gerade in turbulenten IMC-Bedingungen,
vielleicht noch unter zusätzlichem Stress durch Passagiere, die gerade der
geschilderten Diskrepanz zwischen Innenohr und Gehirn zum Opfer fallen, in der
Lage zu sein, seine am Boden so zuverlässigen Sinne in der Luft durch den
Verstand zu dominieren. Und das nicht nur mal eben zwei Minuten, sondern
durchaus auf längere Dauer! Das kann man sich nur mehr oder weniger mühsam
antrainieren (lassen), nicht an einem Wochenende, sondern über einen längeren
Zeitraum. Schließlich haben unsere Sinne einen lebenslangen Vorsprung...
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